Keine Selfies und wenige StarsDas Cannes Film Festival verpennt den Fortschritt
Vielleicht verweigert es sich dem Fortschritt, vielleicht versucht es einfach, die Kinomagie zu wahren. Sicher ist: Das Cannes Film Festival wirkt 2018 überholt.

Die 71. Ausgabe des Cannes Film Festival hat am Dienstag begonnen und irgendwie springt diesmal der gewohnt festliche Funke nicht wirklich über. Liegt es daran, dass Netflix dem Anlass den Rücken gekehrt hat? Liegt es am Schatten, den #MeToo über Hollywood gelegt hat? Oder daran, dass Hollywood gar nicht wirklich da ist?
Hier sind fünf Gründe, warum die Filmfestspiele an der Croisette dieses Jahr einen Teil des üblichen Glanzes, der dringlichen Relevanz und des nötigen Bewusstseins vermissen lassen.
1. Netflix ist nicht dabei
Dass Netflix 2017 die Eigenproduktionen «Okja» und «The Meyerowitz Stories» ins Cannes-Rennen schicken durfte, sorgte für Diskussionen – schließlich sind diese Filme laut einigen Cineasten nicht explizit fürs Kino, sondern eben fürs Streaming gemacht worden. 2018 hätten dann nur Netflix-Streifen im Wettbewerb teilnehmen dürfen, die später auch in Frankreich ins Kino kommen.
Laut französischem Gesetz dürfen Filme, die im Kino gelaufen sind, frühestens drei Jahre später als Stream angeboten werden – für den Streaming-Riesen Netflix wäre das ein tiefer Schnitt ins eigene Fleisch, darum verzichtete er auf eine Teilnahme und als Konsequenz auch auf jegliches Filmscreening außerhalb des Wettbewerbs um die Goldene Palme. Dieser Schritt erscheint drastisch, gar trotzig.
Das scheint auch Netflix-CEO Reed Hastings eingesehen zu haben, als er vor einigen Tagen am Series Mania Festival zum Thema sagte: «Manchmal machen wir Fehler. Die Cannes-Sache wurde größer, als wir beabsichtigt hatten.» Trotzdem: Sich als Filmfestival im Jahr 2018 gegen ein globales Phänomen mit junger Zielgruppe auszusprechen, zeugt nicht gerade von fortschrittlichem Denken.
2. Selfies sind verboten
Autogrammjäger sind längst auf Fotos umgestiegen. An Filmfestivals und -premieren ist der Fan am erfolgreichsten, der sich die meisten Selfies mit berühmten Menschen ergattert. Das mag für einige Veranstalter und Stars ein Ärgernis sein, aber es ist nun mal die Realität.
Und wenn Cannes wie dieses Jahr das Selfie-Knipsen am roten Teppich verbietet, verschließt es sich ebendieser. Das ist vergleichbar mit Musikacts, die im Zeitalter der Smartphone-Omnipräsenz Fotos an ihren Konzerten verbieten. Die Handys in der Luft mögen manchmal lästig sein, aber sie sind gleichermassen nicht mehr wegzudenken – außerdem bedeuten gepostete Bilder und Videos Gratis-Promo.
3. Hollywood macht sich rar
Das Datum im Mai ist vielen amerikanischen Filmstudios schon länger ein Dorn im Oscar-Auge, schließlich werden die Academy Awards erst im Februar oder März vergeben. Und wenn ihre Streifen schon neun bis zehn Monate vorher gehypt werden, bekommen sie möglicherweise später nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit.
Für die Starpower gesorgt hätten Bradley Coopers Regiedebüt «A Star is Born» mit Lady Gaga und «Suspiria» von «Call Me by Your Name»-Regisseur Luca Guadagnino mit Dakota Johnson, Tilda Swinton, Chloë Grace Moretz und Mia Goth. Sie sind aber 2018 nicht dabei.
Laut Branchenkennern ebenfalls mit Abwesenheit glänzen werden angesehene Filmemacher wie Terrence Malick, Brian DePalma und Harmony Korine – trotz frischen Werken. Immerhin: Spike Lee und Lars von Trier zeigen ihre neuen Filme. Und «Solo: A Star Wars Story» feiert an der Croisette seine Weltpremiere.
4. Frauen sind untervertreten
Klar, wer Angst um seine Oscar-Chancen, gerade kein neues Projekt am Start oder schlicht keine Lust hat, kreuzt in Cannes nicht auf. Dass in Zeiten von #MeToo und «Time's Up» aber so wenige weibliche Filmemacher am Festival vertreten sind, macht durchaus stutzig.
Lediglich die Wettbewerbs-Jury vermag mit Frauen aufzutrumpfen: Den Vorsitz hat Cate Blanchett, die unterstützt wird von Kristen Stewart, Lea Seydoux, Ava DuVernay, Khadja Nin und vier Männern.
5. Verhaltensregeln sind veraltet
Nach beziehungsweise während #MeToo und «Time's Up» unverständlich – und vielleicht ein Grund, warum sich einige Frauen gegen eine Cannes-Teilnahme entschieden haben: Im Verhaltenskodex des Filmfestivals wird Belästigung nicht explizit verboten. Diesen Schritt haben ähnliche Veranstaltungen wie das Sundance, das Tribeca und die CinemaCon für 2018 bereits getan.
Festivalleiter Thierry Frémaux begründete gegenüber «Variety»: «Cannes kann kein Ersatz sein für die Justiz oder die Polizei. Es existieren Gesetze gegen Belästigung und sexuelle Übergriffe und wir werden die Leute daran erinnern.» Geschehen ist dies nun in Form von Flyern, auf denen eine Hilfe-Hotline angegeben ist, die Opfer von sexueller Belästigung wählen können.
(L'essentiel/shy)