Wohnen im Chaos – Die Stadt der Dunkelheit

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Wohnen im ChaosDie Stadt der Dunkelheit

Vor 20 Jahren verschwand in Hongkong ein urbaner Albtraum: Die «Walled City» von Kowloon, wo sich Bordelle und Opiumhöhlen zwischen tausende Wohnungen drängten, wurde abgerissen.

Es muss ein erschreckender, ein faszinierender Anblick gewesen sein: Ein bis zu vierzehn Stockwerke hoher kompakter Klotz von rund 350 zerfallenden Betongebäuden, dazwischen enge, ewig feuchte Gassen, Gänge, Stege und Treppen. In diesem riesigen, alptraumhaften Komplex lebten und arbeiteten auf engstem Raum rund 35'000 Menschen.

Eine Stadt in der Stadt, hochkonzentriert auf der Fläche von etwa vier Fußballfeldern. Es war das städtische Gebiet mit der höchsten Bevölkerungsdichte der Welt: rund 1,3 Millionen Einwohner pro Quadratkilometer - bei einer solchen Dichte würden auf dem Gebiet der Stadt Zürich gut 70 Millionen Leute Platz finden.

Gesetz der Mafia

Wie eine außer Kontrolle geratene, chaotische Wohnmaschine aus einem dystopischen Science-Fiction-Film ragte die «Walled City» («Ummauerte Stadt») bis zu ihrem Abriss im Frühjahr 1993 mitten in Kowloon auf. Weil das Tageslicht kaum mehr zwischen den Betonklötzen bis auf den Grund der engen Gassen durchdrang, nannten die Leute den Stadtteil auf Kantonesisch «Hak Nam», «Stadt der Dunkelheit».

Eine auch metaphorische Dunkelheit übrigens, denn beherrscht wurde dieses urbane Gebilde von der chinesischen Mafia, den Triaden. Die Walled City war – bis auf das Gesetz der Triaden – gesetzlos und anarchisch.

Bordelle, Opiumhöhlen und Nudelfabriken

Die Gesetzlosigkeit zog Menschen und Gewerbe an. Flüchtlinge, Gesetzesbrecher, aber auch ganz gewöhnliche Leute lebten in dem festungsähnlichen Superblock. Drogenhändler boten ihre Ware an, Prostituierte verkauften ihre Dienste, Metzger priesen – in der Kronkolonie illegales – Hundefleisch an, Zahnärzte ohne Lizenz – und oft auch ohne Ausbildung – bedienten ihre Kunden konkurrenzlos billig. Kleine Läden ohne Zahl säumten die müllübersäten Gassen und Stiege, zahlreiche Kleinstbetriebe stellten billige Produkte her. Bordelle zwängten sich zwischen Wohnungen, Opiumhöhlen lagen neben Einmann-Nudelfabriken.

Die Arbeitsbedingungen in diesem neoliberalen feuchten Traum waren brutal; gearbeitet wurde oft zwölf Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche – und dies zu erbärmlichen Löhnen. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, gerade in den zahllosen Winzigfirmen, die für feine Hongkonger Restaurants Lebensmittel verarbeiteten. Kein Polizist, kein Steuerfahnder und kein Lebensmittelkontrolleur wagte sich hinein in dieses kriminelle Gewirr der Gassen.

Architektonischer Wildwuchs

Keimzelle dieser urbanen Wucherung war ein chinesischer Militärposten. Als sich das Britische Empire 1847 die Insel Hongkong unter den Nagel gerissen hatte, bauten die Chinesen den Posten auf der gegenüberliegenden Halbinsel Kowloon zu einem ummauerten Fort aus. 1898 pachteten die Briten die «New Territories», zu denen auch Kowloon gehörte, für 99 Jahre. Das chinesische Kaiserreich weigerte sich aber hartnäckig, auch das Fort an die Kolonialmacht zu übergeben. Damit entstand eine chinesische Exklave, die jedoch von China immer mehr vernachlässigt wurde und zunehmend verfiel. Auch die Briten, die das Gelände schließlich an sich rissen, zeigten nicht viel Interesse daran. Während der Besetzung Hongkongs im Zweiten Weltkrieg rissen die Japaner auch noch die Mauern nieder.

Erst nach dem Krieg setzte die rasante Entwicklung der Walled City ein. Betonklotz um Betonklotz wurde hochgezogen, manchmal so nahe beieinander, dass es nicht möglich war, ein Fenster zu öffnen. Da es sich faktisch um Niemandsland handelte, wo weder britisches noch chinesisches Recht verbindlich galt, bremste keine Behörde den architektonischen Wildwuchs. Hatten 1947 erst 2000 Menschen die Walled City bevölkert, lebten zu Beginn der 70er-Jahre bereits gut 10'000 Menschen dort.

Abriss begann 1993

Die meisten von ihnen waren Flüchtlinge aus Maos harschem Reich. Zu diesem Zeitpunkt war der Komplex bereits zu jener Hochburg der Kriminalität geworden, die zunehmend als Schandfleck empfunden wurde. Ab Mitte der 70er-Jahre führten die Behörden Hongkongs tausende von Razzien durch, mit denen es ihnen gelang, die Macht der Triaden zu brechen.

Doch der menschliche Termitenhügel blieb ein Ärgernis. Auch die Volksrepublik China empfand das offiziell ihr zugeschriebene Territorium zunehmend als Schandfleck. 1987 gaben Peking und London gemeinsam bekannt, dass die Walled City dem Erdboden gleich gemacht werden sollte. Der Abriss begann im März 1993 und war trotz erbitterten Widerstands einiger Bewohner im April 1994 beendet. Wo sich früher der Betondschungel erhoben hatte, wurde nun ein Park angelegt. Heute existiert die Walled City nur noch in Dokumenten, Bildern und Videos – und in den Erinnerungen ehemaliger Bewohner.

Video: «Kowloon Walled City, Hong Kong. 1990»

(L'essentiel Online/Daniel Huber)

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