Frankreich10-Jähriger erschossen – «Leute in den Banlieues haben Angst»
Frankreich-Kenner Gilbert Casasus äußert sich zum Tod eines Zehnjährigen im südfranzösischen Nîmes.

- von
- Claudia Blumer
Im südfranzösischen Nîmes wurde in der Nacht auf Dienstag ein zehnjähriger Junge erschossen. Dieser war mit seinem Onkel und einem weiteren Jungen (7) auf dem Heimweg, als das Auto unter Beschuss geriet. Der Onkel fuhr mit dem verletzten Jungen ins Krankenhaus, wo dieser seinen Verletzungen erlag. Auch der Mann wurde verletzt, der Siebenjährige blieb unversehrt.
Laut französischen Medien sollen vier Personen geschossen haben, die Ermittler hätten am Tatort ein Dutzend Patronenhülsen gefunden. Die Täter flüchteten mit einem gestohlenen Auto. Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin meldete sich auf X, vormals Twitter: Dieses immense Drama bleibe nicht ungestraft.
Der Stadtteil Pissevin, in dem sich der Vorfall ereignete, ist ein sozialer Brennpunkt. Schon am Wochenende kam es dort und in der benachbarten Banlieue zu Schießereien (siehe Box). Gilbert Casasus, emeritierter Professor für Europastudien an der Universität Fribourg in der Schweiz, gibt seine Einschätzung zum Fall.
Herr Casasus, war der zehnjährige Junge ein Zufallsopfer?
Französische Medien berichten, dass irrtümlich auf dieses Auto geschossen wurde. Demnach wären es Zufallsopfer, was aber sehr außergewöhnlich ist. Wenn im Drogenmilieu vier Personen auf ein Auto schießen, dann geschieht das kaum je zufällig. Das sind Profis. Doch tatsächlich war der Mann, der Onkel des getöteten Jungen, der Polizei nicht bekannt. Das ist merkwürdig. Ebenso, dass er gegen Mitternacht mit zwei kleinen Jungen unterwegs war. Er ist Soldat und war soeben von einem Einsatz zurückgekehrt. Es ist denkbar, dass der Mann ein Doppelleben geführt hat zwischen Drogenmilieu und dem Leben als scheinbar unbescholtener Mann. Das ist eine Hypothese.
Die Polizei hatte den Mann nicht auf dem Radar – macht sie ihren Job nicht richtig?
Sie macht nach meiner Einschätzung vieles falsch. Sie geht sehr repressiv vor, was das Grundproblem nur noch verstärkt und den Graben zwischen den Abgehängten und dem Rest der Bevölkerung vergrößert. Je mehr der französische Staat auf die Polizei setzt, um das Problem zu lösen, desto größer ist die Gefahr, dass noch mehr Kinder diesen Kämpfen der Drogenmafia zum Opfer fallen und sterben. Das Problem besteht seit Jahrzehnten und wird immer schlimmer. Der Rassemblement National, die Le Pen-Partei, bietet hierfür einen zusätzlichen Nährboden mit Forderungen nach mehr Repression. Das Ergebnis ist katastrophal. Frankreichs Drogenpolitik ist eine Bankrotterklärung.
Was müsste man stattdessen tun?
Wie Deutschland das macht: Cannabis legalisieren. Das wäre auch in den französischen Banlieues ein erster, wichtiger Schritt. Denn je schärfer die Polizei auf die Drogendealer losgeht, desto mehr treibt das die Drogenpreise in die Höhe. Davon profitieren die Dealer am meisten. Natürlich ist Cannabis nicht das größte Problem in den Vorstädten, aber dessen Legalisierung wäre ein erstes, wichtiges Zeichen. Weiter müsste der Dialog gefördert werden, man müsste eine andere Kultur- und Bildungspolitik etablieren.
Schon am Wochenende wurde im selben Viertel ein 15-Jähriger angeschossen und es gab eine weitere Schießerei. Das klingt wie Meldungen aus einem Kriegsgebiet.
In diesen Gegenden kann der Staat nicht mehr einwirken. Er scheint dazu nicht mehr legitimiert. Es gibt nur noch die Polizeigewalt. Die meisten Opfer des Drogenkrieges sind selber daran beteiligt. Doch 90 Prozent der in den Banlieues lebenden Bevölkerung versucht, sich vom Drogenkrieg fernzuhalten. Sie befinden sich schlicht am falschen Ort und haben keine andere Wahl, als dort zu leben.
Der Innenminister kündigt Strafverfolgung und Polizeipräsenz an. Ist das falsch?
Paris entsendet eine Spezialeinheit der Polizei nach Nîmes. Politisch ist das klug, er beruhigt die Leute, er wird dafür große Zustimmung bekommen. Die Leute wollen lieber eine Politik der Symptombekämpfung statt einen grundlegenden Wandel. Ein Beispiel: Die Arbeitslosigkeit geht zurück, also könnte man annehmen, dass auch in den Banlieues mehr Leute eine Stelle finden. Nun bekommt aber ein Jugendlicher, der Schmiere steht und nach Polizisten Ausschau hält, für eine halbe Stunde 200 Euro. Mit 20 Einsätzen pro Monat verdient er so 4000 Euro. Mehr als das Doppelte eines durchschnittlichen Vollzeitlohns. Das sind Probleme, die man angehen müsste.
Was ist die richtige Antwort auf das Banlieue-Problem?
Pissevin - abgehängter Stadtteil
Der Stadtteil Pissevin im Westen von Nîmes, wo in der Nacht auf Dienstag ein Zehnjähriger bei einer Schießerei ums Leben kam, ist ein sozialer Brennpunkt. Schon am Wochenende wurde geschossen, ein 15-Jähriger wurde verletzt. Pissevin wurde in den Sechzigerjahren als eines von zahlreichen Sozialwohnungsvierteln, so genannten Grands Ensembles, gebaut, weil die Wohnungsnot gemildert werden musste. Bald kam es jedoch zu Isolation und Ghettobildung. Heute wird in Pissevin, das mit rund 11.000 Einwohnern sieben Prozent der Bevölkerung von Nîmes beherbergt, laut französischen Medien eine der aktivsten Drogenhandels-Drehscheiben von marokkanischen Gangstern kontrolliert. (blu)