Ein Talib im Interview«Ich war erleichtert über Osamas Tod»
Al Kaida eine Plage, die Tötung Bin Ladens ein Segen: Ein Taliban-Kommandant überrascht mit freimütigen Äußerungen über die Stimmung unter den Gotteskriegern.

Der richtige Name des Taliban-Kommandanten bleibt ungenannt, und wer «Mawlawis» Interview in der neuesten Ausgabe des englischen Politmagazin «New Statesman» liest, versteht warum: Da spricht einer frisch von der Leber über Lügen und Mythen des Afghanistankriegs.
Mindestens 70 Prozent der Taliban seien sauer auf Al-Kaida, so seine vielleicht überraschendste Aussage. «Die Afghanen betrachten Al-Kaida als Plage, die vom Himmel fiel», sagte Mawlawi. Das Terrornetzwerk habe ihre «Gastfreundschaft missbraucht».
Auch für deren ehemaligen Chef Osama Bin Laden hat er nichts übrig: «Ehrlich gesagt, ich war erleichtert über Osamas Tod», sagte Mawlawi. Seine Politik habe Afghanistan zerstört. «Wenn es ihm wirklich um Dschihad gegangen wäre, hätte er den auch in seiner eigenen Heimat Saudiarabien machen können», sagte der Taliban-Kommandant.
Die Taliban bräuchten göttliche Intervention
Über die Möglichkeit, im über 10-jährigen Konflikt eine Wende herbeizuführen, macht sich Mawlawi, der im US-Gefangenenlager Guantánamo inhaftiert war, keine Illusionen mehr: «Es liegt in der Natur eines Kriegs, dass beide Seiten vom Sieg träumen, doch die Kräfteverhältnisse im Afghanistankrieg sind klar», stellte er resigniert fest. Die Taliban bräuchten eine «göttliche Intervention», um diesen noch Krieg zu gewinnen.
Wer das Gegenteil behaupte – was die Taliban offiziell oft tun – begehe einen schweren Fehler. Auf der anderen Seite könne die Führung nicht öffentlich zu ihrer Schwäche stehen, ohne die Moral ihrer Kämpfer zu gefährden. Doch letztlich wisse sie, dass sie «diese Macht, der sie gegenüber steht», nicht besiegen kann.
«Pragmatismus in Frauenfragen»
Das erklärte Ziel der Taliban habe sich dessen ungeachtet nicht verändert: Die Vertreibung der ausländischen Truppen und die Umsetzung der Scharia-Gesetzgebung. Wenn das nicht erreicht werden kann, dann müsse man sich mit kleineren Zielen begnügen, so Mawlawi: Eine organisierte Partei unter vielen werden.
So viel anders als in den späten 1990er Jahren, als die Gotteskrieger in Afghanistan an der Macht waren, sei das gar nicht: «Damals gab es die Scharia in Kandahar und Kabul, aber weniger in Herat und fast gar nicht im Norden», sagte Mawlawi.
Sollten die Taliban jemals wieder an die Macht kommen oder an ihr beteiligt sein, erwartet Mawlawi Pragmatismus in Frauenfragen, weniger Pedanterie in Detailangelegenheiten wie der Bartlänge sowie bessere Beziehungen mit dem Ausland. Dies seien die drei Hauptprobleme, die dem internationalen Ansehen der Taliban schaden. Bei aller Freimütigkeit in dem Interview gibt es aber auch rote Linien: «Über eine Sache wage ich nicht zu sprechen: unsere Beziehung zu Pakistan», sagte Mawlawi.
Einer der ranghöchsten Taliban-Kommandanten der ersten Stunde
Wie immer bei Aussagen von Mitgliedern der Taliban, stellt sich die Frage, wie repräsentativ die Ansichten für die heterogene Bewegung sind. Der irische Ex-Diplomat Michael Semple, der das Interview führte, bezeichnet Mawlawi als «einen der ranghöchsten Taliban-Kommandanten der ersten Stunde und Vertrauten der Führungsriege».
Semple war früher EU-Gesandter in Kabul, spricht fließend Persisch und lebte 25 Jahre in Afghanistan und Pakistan. Den Behörden in Kabul waren seine guten Kontakte zu den Taliban allerdings nicht geheuer, weshalb sie 2004 seine Ausweisung durchsetzten.
(L'essentiel Online/kri)