Regierungskrise«Im Staatsapparat ist niemand neutral»
LUXEMBURG - Steht Luxemburg nach den rezenten Skandalen und dem Regierungsrücktritt vor einer institutionellen Krise? Wir haben den Historiker Denis Scuto gefragt.

L’essentiel Online: Wie sehen Sie als Historiker die politischen Krise, die Luxemburg zur Zeit durchmacht?
Denis Scuto: Diese politische Krise kann durchaus mit anderen politischen Krisen verglichen werden, die das Land durchgemacht hat, zum Beispiel während des Ersten Weltkrieges, in den 1920er und 1930er Jahren, oder nach der Befreiung am Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Krise ist nicht nur das Ergebnis eines Kontrollverlustes über den SREL, sondern auch eine Folge der «Bommeleeër»-Affäre.
Max Weber hat bereits am Anfang des Jahrhunderts die Funktionsweise des Staates analysiert und eines der Probleme demokratischer Staaten veranschaulicht: Das Funktionieren eines Staates beruht nicht nur auf der Politik, sondern auch auf dem Verwaltungsapparat und den staatlichen Dienstleistungen. Der Staat nimmt immer mehr Platz ein und interveniert stärker. Wir sind von einem liberalen Staat mit einer schlanken Verwaltung zu einem interventionistischen Wohlfahrtsstaat übergegangen, in dem die Bürokratie immer mehr Platz einnimmt.
Bei den Beamten dieses Apparates ist die Versuchung, sich der politischen Kontrolle und ihrer Verantwortlichkeit gegenüber den gewählten Volksvertreter zu entziehen, immer stärker ausgeprägt. So wie in dem extremen Beispiel der «Bommeleeër»-Affäre, in der Personen, die wahrscheinlich aus den Reihen der Polizei kamen, regelrechte Angriffe auf die Infrastrukturen und Symbole des Staates durchführten. Ein weiteres Beispiel ist die politische Krise im Rahmen der SREL-Affäre, wo Beamte die mangelnde Kontrolle durch den zuständigen Minister missbraucht haben.
Mit einer Tripartite, die seit 2011 auf Eis liegt und dem Ende der Regierungskoalition scheint es so, als ob das Luxemburg Sozialmodell in Gefahr sei?
Die Probleme der Tripartite hängen mit der Wirtschaftskrise zusammen. Es handelt sich um die erste große Krise seit den 70er Jahren. Die Konflikte um die Verteilung von Ressourcen nehmen deshalb zu. Aber die Grundlagen der Tripartite sind intakt. Gut organisierte Arbeitgeberverbände - mehr als 80 Prozent der Unternehmer sind in Verbänden organisiert - und ein Beschäftigtenanteil von rund 60 Prozent, der gewerkschaftlich organisiert ist. Diese sozialen Akteure sind also immer noch präsent. Die Tripartite ist nicht nur ein Konsens, sie das Ergebnis eines Jahrhundert der Konfrontationen, der Verhandlungen und der Schlichtung, nur dass diese Vorgänge mittlerweile schwieriger geworden sind.
Die Enthüllungen über den SREL haben die Öffentlichkeit in Luxemburg aufgerüttelt. Einige fordern nun die Auflösung des Geheimdienstes. Welches Gewicht besitzt der SREL im historischen Kontext des Landes?
Der SREL ist offensichtlich im Kontext des Kalten Krieges entstanden. Dieser ist seit dem Fall der Berliner Mauer nicht mehr gegeben. Der aktuelle Skandal ist auch dadurch zu erklären, dass der SREL seine nachrichtendienstliche Tätigkeit außerhalb seines historischen Kontextes weitergeführt hat. Das andere Problem, das offenbart wurde, ist, dass innerhalb des Staatsapparates niemand neutral ist. Unabhängig davon, ob es sich um Einzelpersonen oder Gruppen handelt. So gibt es politische Konflikte und Machtkämpfe innerhalb der staatlichen Verwaltungen und dadurch kommt es natürlich zum Machtmissbrauch.
Aus einer historischen Perspektive heraus sieht es so aus, dass wir in einer Zeit leben, in der die traditionellen hierarchische Strukturen einer früheren Epoche von einer dezentralen Logik abgelöst werden. Die Politik wird dadurch immer ausgeprägteren Forderungen nach Transparenz ausgesetzt. Eine große Rolle spielte auch die investigative Arbeit der Medien, die ihre Kontrollfunktion in einer Demokratie erfüllen.
(Chis Mathieu / L'essentiel Online)