Schüße auf TeenagerKurz darauf war Trayvon Martin tot
In Florida erschießt ein Weißer einen 17-jährigen Schwarzen – und die Polizei lässt ihn laufen. Der Fall erinnert viele in den USA an die Zeit der Bürgerrechtsbewegung.

So wie hier in Sansford, Florida, am 22. März demonstrierten auch in anderen Städten Amerikaner gegen die Erschießung eines 17-Jährigen.
Ein schwarzer Teenager wird Opfer eines Gewaltverbrechens – trauriger Alltag in den USA, in den Medien häufig nicht mehr als eine Kurzmeldung wert. Im Fall des 17-jährigen Trayvon Martin war das zu Beginn nicht anders. In den letzten Tagen aber hat sich die vermeintliche Routineangelegenheit zur einer Affäre von nationaler Bedeutung entwickelt. Denn Trayvon Martin war kein «üblicher Verdächtiger», kein Crack rauchendes Mitglied einer Jugendgang. Er war unbewaffnet, unbescholten, hatte nur beste Schulnoten und wollte aufs College.
Seine Zukunft endete am Abend des 26. Februar in Sanford, einem Vorort der Unterhaltungsmetropole Orlando im Bundesstaat Florida. In der Halbzeitpause des Allstar-Game der Profi-Basketballliga NBA geht Trayvon Martin zu einem Laden, um sich Bonbons und Eistee zu besorgen. Auf dem Rückweg fällt er George Zimmerman ins Auge. Der 28-jährige Weisse lateinamerikanischer Abstammung ist Mitglied einer Nachbarschaftswache – der bullige Student patrouilliert seit Monaten durch die eingezäumte Wohnanlage, in der es wiederholt zu Einbrüchen gekommen war. Er ist im Besitz einer Neunmillimeter-Pistole.
Erst schießen, dann fragen
Seit Anfang 2011 hat Zimmerman fast 50 Mal die Notrufzentrale kontaktiert. Auch an diesem Abend wählt er die Nummer 911. «Der Typ sieht aus, als ob er nichts Gutes vorhat, oder er steht unter Drogen», sagt er beim Anblick von Trayvon Martin. Er nimmt die Verfolgung auf, gegen den ausdrücklichen Rat seiner Kontaktperson in der Zentrale. Kurz darauf ist Trayvon Martin tot – er stirbt durch einen Schuss in die Brust. Die Polizei aber lässt George Zimmerman nach kurzer Befragung laufen – er habe aus Notwehr gehandelt, behauptet er.
In Florida existiert seit 2005 ein Gesetz, wonach jeder zur Waffe greifen kann, wenn er sich bedroht fühlt. Kritiker sprechen von einem «Erst schiessen, dann fragen»-Erlass. Auf Druck der Waffenlobby NRA wurden in 21 Bundesstaaten ähnliche Gesetze verabschiedet, doch jenes in Florida geht besonders weit. Es kann faktisch überall zur Anwendung kommen, nicht nur auf dem eigenen Grund und Boden. Ohnehin verfügt Florida über besonders laxe Vorschriften betreffend das Tragen von Waffen.
«Warum verfolgen Sie mich?»
Für die Polizei von Sanford waren die Vorgaben offenkundig erfüllt, um nichts gegen George Zimmerman zu unternehmen. Doch Tracy Martin und Sybrina Fulton, die Eltern des toten Teenagers, liessen nicht locker, und tatsächlich begann sich der Fall mit einiger Verzögerung zu einem nationalen Thema zu entwickeln. Denn zunehmend tauchten Ungereimtheiten auf. So hatte Trayvon Martin kurz vor den tödlichen Schüßen am Handy mit seiner 16-jährigen Freundin telefoniert. Die Aufnahme lässt darauf schliessen, dass er sich von Zimmerman bedroht fühlte und nicht umgekehrt: «Warum verfolgen Sie mich?» ruft er.
Auch Nachbarn werden auf das Geschehen aufmerksam, sie wählen ebenfalls den Notruf. In einer Aufnahme ist zu hören, wie ein junger Mensch ruft: «Oh Gott, helft mir!» Dann fallen Schüße. Zwei Frauen, die den Vorfall beobachten, halten es für undenkbar, dass Zimmerman aus Notwehr gehandelt hat: «Warum war er dann hinter Trayvon her?» fragte eine der Zeuginnen auf CNN. Auch für Vater Tracy Martin ist der Fall klar: «Wäre mein Sohn ein Weißer, dann wäre er nicht gestoppt worden.» Selbst Politiker, die das Notwehr-Gesetz im Parlament von Florida eingebracht haben, behaupten nun, es könne in diesem Fall nicht angewendet werden, schreibt der «Miami Herald».
Eine Million fordern Gerechtigkeit
Eine Online-Petition, die Gerechtigkeit für Trayvon Martin fordert, wird bereits von rund einer Million Menschen unterstützt. Mehrere hundert Personen unterstrichen die Forderung am Mittwoch in New York an einem «Million Hoodie March», an dem auch die Eltern des Opfers teilnahmen. Hoodies sind Kapuzenjacken, eine solche trug Trayvon Martin an besagtem Abend. Schwarze in Hoodies sind für viele Amerikaner auch ein Symbol für kriminelle Gewalttäter. Viele glauben denn auch, dass Rassismus bei der Tat eine Rolle spielte.
George Zimmerman sagt dazu nichts, er ist abgetaucht. Sein Vater Robert Zimmerman verteidigte ihn in einem Brief an die Zeitung «Orlando Sentinel»: George sei Angehöriger einer spanischsprachigen Minderheit «mit vielen schwarzen Familienmitgliedern und Freunden». Das mediale Porträt seines Sohnes als Rassist könne «nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein». Die gleiche Zeitung berichtet allerdings, dass Zimmerman im Gegensatz zu seinem Opfer kein unbeschriebenes Blatt ist. Es habe in der Vergangenheit Vorwürfe wegen häuslicher Gewalt und Widerstands gegen die Staatsgewalt gegeben.
FBI schaltet sich ein
Inzwischen haben sich auch das US-Justizministerium und das FBI eingeschaltet. Sie untersuchen, ob ein «Haßverbrechen» vorliegt. In diesem Fall könnten die Bundesbehörden von sich aus tätig werden. Manche glauben, in Zimmermans 911-Anruf den Ausdruck «fucking coons» zu vernehmen. Er bedeutet etwa das gleiche wie Nigger. Klar ist das nicht, besagte Stelle ist kaum verständlich. Das FBI hofft nun gemäss US-Medien, die Aufnahme einer genaueren Analyse unterziehen zu können.
Auch die lokalen Behörden in Florida sind aktiv geworden. Der Stadtrat von Sanford verabschiedete am Mittwoch ein – nicht bindendes – Misstrauensvotum an die Adresse von Polizeichef Bill Lee. Schon sein Vorgänger hatte wegen Rassismus-Vorwürfen den Hut nehmen müssen, nachdem der Sohn eines Polizisten vor einer Bar einen schwarzen Obdachlosen verprügelt hatte und ungeschoren davon gekommen war. Der zuständige Bezirksstaatsanwalt Norm Wolfinger hat zudem für den 10. April eine so genannte Grand Jury einberufen – sie soll prüfen, ob genügend Anhaltspunkte für eine Anklage vorliegen.
Erinnerung an die Bürgerrechtsbewegung
In den USA fragen sich viele: Warum erst jetzt, nachdem die nationalen Medien und Prominente wie Hiphop-Mogul Russell Simmons und Schauspielerin Mia Farrow auf den Zug aufgesprungen sind? Warum wurde Martins Freundin nicht befragt? Warum wurde nicht von Anfang an überprüft, ob Zimmerman am Abend der Tat vielleicht betrunken war, ob er überhaupt eine Pistole tragen durfte? Nicht nur die «Washington Post» fühlt sich durch den Fall Trayvon Martin an die Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre erinnert – an jene finstere Zeit, als die Schwarzen darum kämpfen mussten, überhaupt als gleichwertige Menschen anerkannt zu werden.
L'essentiel Online/Peter Blunschi
Tausende gingen für Trayvon Martin auf die Strasse
Tausende Menschen haben in Sanford im US- Bundesstaat Florida die Bestrafung von George Zimmerman gefordert, der Ende Februar den schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin erschossen hatte. Nach Angaben der Polizei versammelten sich am Donnerstagabend (Ortszeit) bis zu 20 000 Menschen in einem Park der Stadt zu einer friedlichen Kundgebung.
Der Polizeichef von Sanford, Bill Lee, hat sein Amt vorübergehend niedergelegt. Lee sagte, seine Rolle als Leiter der Polizeistation sei zu einer «Ablenkung» für die Ermittlungen geworden. Der Stadtrat von Sanford hatte ihm in einer Abstimmung am Mittwochabend das Vertrauen entzogen. (kub/sda)