Aufgestaute WutStürzen die iranischen Proteste die Mullahs ?
Seit Wochen protestieren die Menschen im Iran gegen das Regime in Teheran. Bleibt die Frage, wie viel Sprengkraft die Demonstrationen haben? Die Vergangenheit lässt nichts Gutes erahnen.

«Der Ayatollah der Hinrichtungen»: Ebrahim Raisi , der neu vereidigte Präsident Irans. Läuten die aktuellen Proteste den Untergang der Islamischen Republik ein?
«Ich denke, dass der Anfang des Endes des Regimes immer näher rückt», sagt Islamwissenschaftler Mahdi Rezaei-Tazik. Der Anlass für den verhaltenen Optimismus des Exil-Iraners sind die anhaltenden Proteste gegen das Regime in Teheran.
Seit Tagen und Wochen sind in mehreren Städten und Provinzen im Land Rufe wie «Gebt unser Land frei», «Nieder mit Khamenei» und «Tod den Diktatoren» zu hören. Hintergrund sind die schweren wirtschaftlichen und ökologischen Missstände im Land.
«Man ist sich darüber im Klaren, dass die Ursache dieser Armseligkeit, dieses Unglücks, auf die 42-jährige Herrschaft der Islamischen Republik Iran zurückgeht», so Rezaei-Tazik.
«Das ist kein Wunschdenken»
Ist ein absehbares Ende der Mullahs wirklich realistisch? «Das ist kein Wunschdenken», sagt er. «Die zeitliche Distanz zwischen den Protesten wird immer kleiner – und die Aufstände immer radikaler». Dass mit dem neuen Präsidenten Ebrahim Raisi ein Hardliner an die Macht gekommen ist, ändere nichts: «Ich glaube eher daran, dass die Leute nichts mehr zu verlieren haben.»
Tatsächlich mehren sich die Proteste seit Jahren. Zuletzt waren die Iraner und Iranerinnen im November 2019 gegen das Regime in Massen auf die Straßen geströmt. Bei den knapp zweiwöchigen Protesten sollen 1500 Menschen von Sicherheitskräften und Revolutions Garden getötet worden sein, wie später ans Licht kam.
Es bräuchte «Millionen, die spontan auf die Straße gehen»
«Dass die Menschen keine zwei Jahre später wieder demonstrieren, zeigt, wie enorm groß der Leidensdruck auch heute ist» sagt Nahostexperte Guido Steinberg. Welchen Umfang die aktuellen Proteste hätten, sei aber schwer einzuschätzen.
Die Kraft der Demonstrationen würden von außen meist überschätzt, sagt auch Adnan Tabatabai. Der Iran-Experte bezweifelt, dass die aktuellen Unruhen zu einem Umsturz in Teheran führen könnten - «dafür bräuchte es, überspitzt gesagt, noch mehr Unzufriedenheit im Land».
Von den 83 Millionen Einwohnern müssten dafür «mehrere Millionen Menschen spontan auf die Straßen gehen», sagt auch Steinberg und verweist auf den Umstand, dass Teheran innerhalb kurzer Zeit Hunderttausende seiner Sicherheitskräfte und Revolutionsgarden breitflächig mobilisieren kann.
Neues Ausmaß von Elend
Kommt dazu, dass es im Land keine breit abgestützte Opposition, keine vertrauenswürdige Alternative zu Regime und Revolutionsgarden gibt.
Gleichzeitig aber hat das Elend im Land – fehlendes Wasser, fehlender Strom und immer mehr Corona-Fälle – selten solche Ausmaße angenommen wie heute. Die Mängel würden die Hoffnung auf Reformen stückweise verdrängen, beschreibt eine anonyme iranische Quelle die Stimmung in der Bevölkerung. Viele lehnten mittlerweile das System insgesamt ab.
«Ayatolla der Hinrichtungen» in der Zwickmühle
In einer Zwickmühle steckt nun Ebrahim Raisi, der soeben als Präsident vereidigt wurde. Proteste am Anfang seiner Amtszeit kann er sich nicht leisten. Ärger mit Parlament und Hardlinern aber auch nicht.
Schließlich war er bei der Wahl deren Spitzenkandidat und verdankt ihnen seinen Sieg. Die Vergangenheit Raisis, dem «Ayatolla der Hinrichtungen», lässt nicht unbedingt Gutes ahnen.
(L'essentiel/Ann Guenter)