Studie zeigt aufSystematisches Doping auch in der BRD
Ein ausgeklügeltes, kontrolliertes Dopingsystem, abgesegnet durch die Politik: Nicht nur in der DDR, sondern auch in der BRD gab es vor dem Mauerfall staatlich geförderte Manipulation im Spitzensport.

Diese Annahme, die es seit Jahrzehnten gibt, stützen Historiker aus Berlin und Münster, die am Montag in der Hauptstadt eine entsprechende Studie vorstellten. «Man kann durchaus von einer staatlich subventionierten Anabolika-Forschung sprechen. Als Begründung wurde oft herangezogen, dass man mit der DDR sportlich auf Augenhöhe sein wollte», sagte Professor Giselher Spitzer von der Berliner Humboldt-Universität, die gemeinsam mit der Westfälischen Wilhelms-Universität die Studie in zweijähriger Arbeit erstellt hat. Dabei nannten Zeitzeugen, denen Anonymität zugesichert wurde, immer wieder einen entscheidenden Satz, der ihnen von Funktionären und Trainern eingetrichtert worden sei: «Ohne Anabolika hast Du keine Chance.»
Konsequenzen hat vorerst niemand zu fürchten. «Wir haben die Verpflichtung, aus diesen Ergebnissen unsere Lehren zu ziehen. Sollten bei diesen Untersuchungen noch Aktive auftauchen, werden wir sehen müssen, welche weiteren Schritte erforderlich sind», sagte Gudrun Doll-Tepper, Präsidiumsmitglied des Deutschen Olympischen Sportbunds DOSB: «Bevor es Konsequenzen zu ziehen gibt, muss man die abschließenden Berichte abwarten.» Diese sollen erst im kommenden Jahr erscheinen.
Hinweise seit Jahrzehnten
Seit Jahrzehnten existieren konkrete Hinweise auf ein von Staatsseite toleriertes Dopingsystem in West-Deutschland, die Anti-Doping-Kämpfer wie Werner Franke, Brigitte Berendonk, Gerhard Treutlein oder Andreas Singler akribisch dokumentierten. Ihre Faktensammlungen wurden gerne als Hirngespinste abgetan. Die neue Studie verleiht dem düsteren Bild neue Kraft.
Sportmediziner, allen voran die damaligen Aushängeschilder Joseph Keul (Freiburg) und Wildor Hollmann (Köln), sollen mit Fördergeldern des dem Bundesinnenministerium unterstehenden Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BISp) leistungssteigernde Effekte von synthetischen Anabolika und Testosteron erforscht haben. Das BISp, das die Studie pikanterweise in Auftrag gegeben hatte, nahm den Wissenschaftlern zufolge in diesem System eine zentrale Rolle ein.
Für die westdeutschen Sportmediziner sei das BISp ein «lukratives Finanzierungsinstrument» gewesen. Keul, in dessen Abteilung für Sport- und Leistungsmedizin an der Uni Freiburg sich Spitzenathleten die Klinke in die Hand gaben, soll sogar BISp-Forschungsgelder, die jährlich in sechsstelliger Höhe in Richtung Freiburg und Köln flossen, auf sein Konto überweisen lassen haben.
Im Zuge der Untersuchungen über Keul gerät auch der langjährige NOK-Präsident Willi Daume ins Zwielicht. Zu dem 1996 verstorbenen «guten Gewissen des deutschen Sports» («Der Spiegel») bestand laut Studie «lange ein Vertrauensverhältnis, ihm liess Keul sogar Interna zur Anabolika-Praxis zukommen».
Keul starb im Jahr 2000. Hollmann, der im BISp zwischen 1970 und 1992 den Fachausschuss für Medizin leitete, setzt sich gegen die Anschuldigungen vehement zur Wehr. Der 86-Jährige weist die Darstellung der Historiker im Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» als «teilweise grotesk anmutende Unterstellung» zurück. In seinem Institut an der Deutschen Sporthochschule in Köln sei «niemals Dopingforschung betrieben» worden.
«Eindeutige Signale aus dem Innenministerium»
Die Studie zeichnet ein anderes, stichhaltiges Bild davon, wie Politiker wohlwollend ihren Segen geben und wegschauen. Um bei Olympia 1972 in München Medaillen zu gewinnen, seien laut Studie «eindeutige Signale» aus dem Bonner Innenministerium gekommen, «alle Mittel zu nutzen». Wie weit die Politiker im Klassenkampf mit der DDR und dem Ostblock auch nach den Sommerspielen in München gingen, beweist ein Dokument aus den Archiven des Südwestfunks.
Am 21. Oktober 1976 sprach Gerhard Gross, Ministerialrat von Innenminister Werner Maihofer, bei einer Einweihungsfeier in Freiburg zum «lieben Herrn Professor Keul» vor laufenden Kameras: «Wenn keine Gefährdung oder Schädigung der Gesundheit der Athleten herbeigeführt wird, halten Sie leistungsfördernde Mittel für vertretbar. Der Bundesminister des Inneren teilt grundsätzlich Ihre Auffassung.»
Dass tatsächlich vor allem mit Anabolika gedopt wurde, ist seit langem bekannt. Unter anderem Uwe Beyer (Olympiadritter 1964 im Hammerwurf), Sprinter Manfred Ommer (EM-Zweiter 1974 über 200 m) und der ehemalige Hammerwurf-Weltrekordler Walter Schmidt gaben teils schon während ihrer Karriere zu, gedopt zu haben. Vor allem der langjährige Olympia-Mannschaftsarzt Keul, das belegte schon eine Doping-Studie der Uni Freiburg, färbte die Praktiken für die Öffentlichkeit schön und spielte die Gefahren herunter.
(L'essentiel online/si)