Kurdistan – Von Verrätern, Verlierern – und großem Gewinner

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KurdistanVon Verrätern, Verlierern – und großem Gewinner

Nach dem Unabhängigkeitsreferendum lassen die Folgen die Verlierer erkennen. Der größte Gewinner ist der mächtige Nachbar im Osten.

Wieso bloß hat Kurden-Präsident Masoud Barzani alle Warnungen in den Wind geschlagen? Wieso hat er am 25. September über die Unabhängigkeit der Autonomen Region Kurdistan abstimmen lassen – trotz aller Risiken und schlechter Vorzeichen? «Es ist für mich ein Rätsel», meint die NZZ-Korrespondentin Inga Rogg. Auch andere Beobachter sind ratlos, verweisen auf die schweren Konsequenzen für den Kurden-Präsidenten, sprechen von einer «großen historischen Niederlage», vom «unabwendbaren politischen Sturz» Barzanis.

Die Folgen der Abstimmung traten im Verlauf der letzten Wochen derart offen zutage, dass die Türkei die Schadenfreude kaum verhehlte: Präsident Barzani solle nun «den Preis für die Unabhängigkeit zahlen», so der türkische Regierungschef Binali Yildirim.

Die, aus kurdischer Sicht, enorm deprimierende Bestandesaufnahme einen Monat nach dem Referendum:

Territoriale Verluste: Die kurdischen Truppen mussten sich aus der Ölstadt Kirkuk zurückziehen, auch aus der Region von Sinjar, aus Makhmur und Bashika – all die Städte und Gebiete, welche die Peshmerga während der letzten drei Jahre in einem opferreichen Kampf gegen den «Islamischen Staat» zurückerobert hatten. Der kurdische Teilstaat schrumpft so wieder auf das Gebiet der Zeit von Saddam Hussein zusammen.

Mehr Binnenflüchtlinge: Kurdische Zivilisten fliehen nach Erbil oder Suleimanya. In das Kirkuk unter der irakischen Armee wollen offenbar die wenigsten der neuen Flüchtlinge zurück.

Beschneidung der Autonomie: Bis zum 25. September hatten die Kurden mit Erbil eine Hauptstadt, ein eigenes Parlament, betrieben eine eigene Innen- und Außenpolitik, hatten eigene Grenzkontrollen und internationalen Flugverkehr. Aus dieser Position heraus wollte Präsident Barzani nach dem Referendum zwei Jahre verhandeln, bevor tatsächlich ein eigener Kurdenstaat ausgerufen werden sollte. Diese Chance wurde verspielt. Jetzt haben die Kurden einen Teil ihrer vorherigen Souveränität verloren. Baghdad gab soeben seine Konditionen für weitere Verhandlungen bekannt: Kontrolle über die Flughäfen, der Grenzposten und der umstrittenen Gebiete.

Nichts gewonnen, alles zerronnen? «Ja, so hart das klingt. Doch die Kurden sind selbst schuld, weil sie mit dem Referendum provozierten und alle Warnungen in den Wind schlugen», sagt Nahostexperte Guido Steinberg. «Dass dies so schnell so dramatische Folgen haben würde, war mir auch nicht bewusst.»

«Man sollte einen starken Gegner nicht provozieren»

Nicht nur international, auch im Land selbst sei vor der Abstimmung gewarnt worden. «Es war klar, dass die irakische Zentralregierung die Ölstadt Kirkuk nicht den Kurden überlassen wird. Und es gab immer wieder Warnungen von den schiitischen Milizenführer. Wenn man keine internationale Unterstützung und Garantien von starken Verbündeten wie den USA oder der Türkei hat, sollte man einen starken Gegner nicht provozieren.»

Die Kurden selbst sind zornig, viele auf ihren Präsidenten, vor allem aber auf den Westen, von dem sie sich im Stich gelassen fühlen. Und sie sind, was sie immer waren: nicht geeint. Der Fall von Kirkuk versinnbildlicht diesen Zwist – und weist auf die tiefer liegenden Machtverhältnisse im Land hin.

Der Fall von Kirkuk: Verrat oder Realpolitik?

So beschuldigen sich die beiden großen Kurden-Parteien, Barzanis Kurdische Demokratische Partei (KDP) und die Patriotische Union Kurdistan (PUK), Kirkuk verraten zu haben. Die KDP beschuldigt die PUK, ein Geheimabkommen mit Baghdad getroffen zu haben, die Stadt kampflos herzugeben. Die PUK wirft Barzani vor, dass Kirkuk schließlich nur wegen dem Unabhängigkeitsreferendum und wegen Barzanis Egoismus gefallen sei. Die Stadt gegen die irakische Armee und schiitische Milizen zu verteidigen, sei schlicht unmöglich gewesen.

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. «Die PUK hat realistischer gehandelt als Barzani und seine KDP», sagt Guido Steinberg. Denn der iranische Einfluss im südlichen Teil des kurdischen Autonomiegebietes sei derart stark, dass die PUK keine andere Wahl hatte, als die iranischen Interessen zu berücksichtigen und die Zentralregierung in Baghdad gewähren zu lassen. «Angesichts des kampflosen Rückzugs der Peshmerga kann man argumentieren wie die KDP: Das ist Verrat. Man kann aber auch argumentieren: Der Rückzug war die Realpolitik eines ganz schwachen Akteurs.»

Ein großer Widerspruch in der US-Politik

Unumstritten ist der seit zehn Jahren wachsende Einfluss des Iran in der Kurdenregion und im ganzen Irak. Seine einflussreichen Schiitenmilizen stehen zwar offiziell unter Befehl von Regierungschef Haidar al-Abadi, werden aber vom schiitischen Iran finanziert und führen im Irak ein Eigenleben. Dabei verfolgt Teheran zwei strategische Ziele: Es will die Zentralregierung in Baghdad kontrollieren, was zum guten Teil gelungen ist. Und es will mit seinen Volksmobilisierungseinheiten Hashd al-Shaabi einen Staat im Staat schaffen, die wichtigsten Milizen und die Struktur im Land kontrollieren.

Fragt sich, wieso die USA als langjährige Verbündete der Kurden, dies hinnehmen – erst recht, wo die Trump-Administration die Einflussnahme des Irans im Mittleren Osten als Begründung dafür aufführt, das iranische Atomabkommen zu künden.

Hierzu Steinberg: «Die USA hatten die Kurden von Anfang an gewarnt. Dass Washington jetzt die Beziehungen zur irakischen Regierung aufrechterhält und den Kampf gegen den IS weiter unterstützt, ist richtig. Doch damit machen die USA auch etwas Widersprüchliches, weil sie letzten Endes mit iranisch dominierten Milizen und mit einer irakischen Regierung zusammenarbeiten, die stark von Iran beeinflusst wird. Ich bin sehr gespannt darauf, wie die Trump-Administration diesen Widerspruch auflöst.»

Die amerikanische Rhetorik für den Mittleren Osten habe sich ganz grundsätzlich gewandelt. «Die USA wollen zwar die Geländegewinne der Iraner in der ganzen Region, vor allem in Syrien, nicht dulden. Gleichzeitig machen sie gerade in Syrien eine sehr schlechte Figur. Die Iraner, Russen und Syrer sind insgesamt erfolgreicher. Auch im Irak sehe ich kaum eine Chance für die Amerikaner, den iranischen Einfluss zu stoppen.»

«Hoffen, dass Baghdad an den alten Grenzen Halt macht»

Wie weiter? Die Kurden haben ihre historische Chance in eine historische Niederlage verwandelt. Barzani, der sich seit dem Fall von Kirkuk in Schweigen hüllt, dürfte politisch am Ende sein. Soeben wurden die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen verschoben, allerdings nicht zum ersten Mal.

Doch mit oder ohne Barzani, der Konflikt zwischen Baghdad und den Kurden dürfte die Zukunft des Landes weiter bestimmen, daran hat der gemeinsame Kampf gegen den IS nichts geändert. «Die wieder erstarkte irakische Zentralregierung versucht gemeinsam mit dem Iran, den Einfluss der Kurden möglichst zu begrenzen», so Guido Steinberg. «Wir können nur hoffen, dass sie es nicht überzieht und an den alten Grenzen des kurdischen Autonomiegebietes Halt macht.»

(L'essentiel)

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