«L'essentiel»-Interview – Wenn der Tod ganz nah ist – Hallenser berichten

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«L'essentiel»-InterviewWenn der Tod ganz nah ist – Hallenser berichten

Ein 27-jähriger Attentäter versetzte am gestrigen Mittwoch eine ganze Stadt in Angst und Schrecken. Wie haben Hallenser diesen Tag erlebt? Wir haben mit einigen gesprochen.

Erst zu Hause wird Andres, Hendrik und Vincent (v.l.) klar, was gerade passiert war.

Erst zu Hause wird Andres, Hendrik und Vincent (v.l.) klar, was gerade passiert war.

Vincent G.

Vincent aus Halle ist gerade mit seinem Auto in der Stadt unterwegs, als er plötzlich zusammenzuckt: «Es gab einen heftigen Knall. Es klang so, als würde auf einer Baustelle etwas umgestürzt sein oder als wenn ein Lkw einen Container verliert», erzählt er gegenüber L'essentiel. «Ich habe mich so erschrocken», fährt er fort. «Ich habe sogar noch das Radio ausgemacht und mich umgedreht, weil ich dachte, dass vielleicht irgendwas von meinem Auto abgefallen war.»

Als Vincent nach Hause kommt, schaltet er den Fernseher an. «Da begriff ich, was passiert war, ich war direkt an dem jüdischen Friedhof vorbeigefahren.» Vincent ist wie gelähmt, als er vom Tod der Frau erfährt. «Hätte der Täter in die andere Richtung geschossen, wäre ich es vielleicht gewesen», denkt er. Dann durchfährt es ihn erneut: «Oh Gott, die Jungs!» Es sind Herbstferien in Sachsen-Anhalt, die beiden 12 und 16 Jahre alten Cousins sind Mittwochmittag von Naumburg nach Halle angereist – zum Shoppen.

Andres und Hendrik laufen gerade über den Marktplatz, als Vincent anruft. «Wir waren erschrocken, aber Angst hatten wir nicht», sagt der Ältere der beiden. Doch statt nach Hause gehen sie noch ins C&A . «Ich wollte unbedingt noch eine Jacke kaufen», sagt Andres, der zu diesem Zeitpunkt das Ausmaß der Ereignisse unterschätzt. Das Einkaufszentrum befindet sich etwa 15 Gehminuten vom Tatort.

«Viele haben ihre Familien angerufen»

«Nach ein paar Minuten riefen meine Cousins an, sie seien jetzt im C&A und werden nicht mehr rausgelassen», erzählt Vincent. «Natürlich macht man sich da Sorgen.» Inzwischen rufen immer mehr Freunde bei Vincent an. «Geht es dir gut?», fragen sie.

«Die Leute waren ruhig, als sie im Eingangsbereich warteten«, erzählt Andres. «Viele haben ihre Freunde und Familie angerufen.» Nach etwa 20 Minuten wollen die Brüder nicht länger ausharren und beschließen, nach Hause zu gehen. Es war ihre freie Entscheidung, obwohl die Hallenser Polizei die Bürger dazu aufgerufen hatte, sich in sicheren Räumen aufzuhalten. «Es war unheimlich, niemand war auf der Straße, alle Geschäfte waren geschlossen», erzählt Hendrik.

Für die Jungs war «der Tag gelaufen», wie es Andres ausdrückt. «Eigentlich hatten wir vor, Lasertag zu spielen, aber das war jetzt natürlich fehl am Platz.» Genauso wie der ursprüngliche Plan, ins Outletcenter zu fahren. «Wir hätten an Landsberg vorbeifahren müssen, da fielen ja auch Schüsse«, erzählt Vincent.

Dessen Vater arbeitet als Polizist auf dem Land und hätte eigentlich um 14 Uhr Feierabend gehabt. Erst um 18 Uhr konnte er nach Hause gehen, weil alle jüngeren Kollegen nach Halle mussten.

«Es hätte uns treffen können»

Stefanie ist zu Hause, als ihre Tochter den Schlüssel in die Tür steckt. «Auf die Sekunde genau ging meine Warnapp «KatWarn» auf dem Handy los», erzählt die Mutter, die in diesem Moment gar nicht begreifen kann, was da draußen gerade geschieht. Tochter Johanna kommt aus der Fahrschule. Diese liegt genau in der Straße, in der der Attentäter in den Döner-Imbiss gestürmt ist und einen Mann erschossen hat. Schlimmer noch: Die Fahrschule liegt direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Dönerladens. Auch zur Synagoge, dem ersten Tatort, sind es knapp 500 Meter.

Wenn Mutter Stefanie über den gestrigen Tag nachdenkt, wird ihr schwindelig: «Normalerweise steigt Johanna an der Fahrschule aus dem Auto und geht zu Fuß nach Hause. Meistens geht sie noch beim Bäcker vorbei oder holt sich einen Snack», erzählt Stefanie. 700 Meter sind es gerade mal bis in die Friesenstraße, wo die Familie wohnt. Auf dem Weg liegen Döner-Imbiss, Bäcker und Seitenstraßen, die direkt zur Synagoge führen.

«Aber gestern hat der Fahrlehrer zum ersten Mal, ganz spontan, Johanna bis nach Hause vor die Tür fahren lassen. Das hat er noch nie gemacht.» Stefanie ist sich sicher: «Es hätte uns genauso treffen können.»

(Franziska Jäger/L'essentiel)

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