ADHS bei Erwachsenen«Wer ADHS hat, kann Berge versetzen»
ADHS ist in aller Munde. Eine Psychiaterin verrät, ob Diagnosen tatsächlich zunehmen und wie sich die Störung auf erwachsene Frauen und Männer auswirkt.

- von
- Geraldine Bidermann

ADHS: Über die vier Buchstaben, die für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung stehen, gibt es immer mehr verfügbare Informationen. Das gilt auch für ADHS bei Erwachsenen.
Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) galt lange als «Kinderkrankheit». Aber auch etliche Erwachsene leiden unter Unaufmerksamkeit, Unruhe und Impulsivität. Wir haben mit Ärztin, Psychiaterin, Buchautorin und ADHS-Expertin Frau Dr. Ursula Davatz über Diagnosen, Herausforderungen und Tipps für Betroffene gesprochen.
Frau Dr. Davatz, man hat den Eindruck, dass ADHS in der Bevölkerung zugenommen hat. Stimmt das?
Nein. Mehr Betroffene gibt es nicht – nur genauere Diagnosen und mehr verfügbare Information.
Kennst du jemanden mit ADHS?
Heute erwähnen Erwachsene auch mal locker auf Social Media, ADHS zu haben. Es gibt Tausende Tiktoks zum Thema. Was ist passiert?
ADHS hat nicht mehr diese stigmatisierende Wirkung von früher. Berühmte Persönlichkeiten wie Richard Branson stehen zu ihren Diagnosen und zeigen, wie gut sie gelernt haben, mit ihren Persönlichkeitsmerkmalen umzugehen.
ADHS bei Erwachsenen und Kindern – die Unterschiede
Ist ADHS denn eine Krankheit?
Nein! Es ist ein Persönlichkeitstyp. Wenn Menschen mit ADS oder ADHS ein gutes Umfeld haben und sich mit ein paar Tools besser kennen lernen, können sie zu sehr erfolgreichen Persönlichkeiten werden. Wenn sie kein gutes Umfeld haben, entwickeln sie allerdings später oft psychische Krankheiten wie schwere Depressionen oder werden bipolar.
Gibt es erste Hinweise, an denen Sie bemerken, ob ein Patient oder eine Patientin möglicherweise ADHS hat?
ADHS-Menschen reden schnell, haben eine stärkere Intonation, wechseln sehr rasch das Thema und sind oft ein bisschen grenzüberschreitend, was zwischenmenschliche Beziehungen angeht. Auch im Straßenverkehr können sie impulsiv sein.
ADHS-Menschen denken alles hundertfach durch.
Und bei ADS?
Bei ADS fehlt bekanntlich die Hyperaktivität (H) im Namen. ADS-Menschen haben diese aber auch, nur dreht sie sich nach innen. Diese Menschen denken alles hundertfach durch und schweifen in Gesprächen gerne in ihre eigene Welt ab, dieses «Wegdriften» sieht man ihnen an den Augen sofort an.
ADHS oder ADS?
Wo ist die Grenze zwischen etwas hyperaktiv oder abgelenkt sein und einer ernsthaften Störung?
Eine klare Grenze gibt es nicht. Es kommt auf den Leidensdruck an. Nur weil es mich langweilt, Wäsche zusammenzulegen, und ich lieber fernsehen würde oder Mühe habe, die Steuererklärung auszufüllen, habe ich noch kein ADHS. Wenn ich mich hinsetze, die Steuererklärung ausfüllen will und es einfach nicht kann, sieht das anders aus.
Nur weil ich Mühe habe, die Steuererklärung auszufüllen, habe ich noch keine ADHS.
Wie unterscheiden sich die ADHS-Symptome bei Frauen und Männern?
Männer werden schnell aggressiv und impulsiv. Frauen nehmen sich eher zurück und unterdrücken die Impulsivität. Sie sind sehr empathisch, spüren sofort, was im Umfeld läuft, und werden zu Helfertypen. Deshalb entwickeln sie später eher eine Depression – weil sie sich aufgeben für alle.

Männer mit ADHS zeigen oft eine ausgeprägte Impulsivität.
Welche Schwierigkeiten haben Betroffene im Beruf?
Sie sind sehr gerne ihr eigener Chef und sind intrinsisch gesteuert. Pseudo-Autoritäten werden sofort erkannt und sie haben keine Hemmung zu kritisieren. Wenn Führungskräfte allerdings fachlich wirklich überlegen sind, lassen sich ADHS-Angestellte gerne von ihnen leiten.
Und im Privatleben?
Menschen mit ADHS können schnell eine Verbindung aufbauen und andere begeistern, genauso schnell aber anecken. Konflikte eskalieren rasch und heftig und Beziehungen werden impulsiv abgebrochen. Zudem stressen sich Betroffene an allem – diese Hyperreaktivität ist wiederum eine Belastung für das Umfeld von ADHS-Menschen. Auch auf den Körper hat es Auswirkungen: Der «Dauerstress» kann zu Folgeerkrankungen und Entzündungen führen.
Menschen mit ADHS können andere begeistern, ecken aber auch schnell an.
Haben Sie Tipps für Partnerinnen oder Partner von Betroffenen?
Klare Kommunikationsregeln: Während eines Ausbruchs soll gar nicht erst versucht werden, einen Konflikt zu lösen. Es lohnt sich, abzuwarten und dann den Streit Revue passieren zu lassen – gegenseitiges Zuhören und Aussprechenlassen ist hierfür Pflicht.
Manche Betroffene nennen ihr ADHS eine Superpower. Gibt es tatsächlich Vorteile?
Klar! Ein superschnelles Denken, das über den eigenen Tellerrand hinausgeht, und innovative Ideen sind typisch. Kein Wunder, haben viele Unternehmerinnen und Erfinder diese Diagnose erhalten. Wer mit ADHS hyperfokussiert ist, kann Berge versetzen.

Flexibilität und kreative Lösungsansätze: Die Diagnose ADHS bietet laut Expertin auch Vorteile.
Wie sieht es mit der Behandlung von ADHS aus?
Oftmals werden Stimulanzien wie Ritalin verschrieben. Das kann sich natürlich lohnen, um klarer zu sehen oder Prüfungen und andere Herausforderungen konzentriert zu bewältigen. Ich bin eher zurückhaltend, was Medikamente angeht. Natürlich verschreibe ich diese auch, aber noch wichtiger finde ich, dass Menschen mit AD(H)S sich und ihre Eigenarten besser kennen lernen.
Wie gelingt das?
Mit Besuchen bei einem ADHS-Coach, der nicht nur das medizinische Modell verwendet, sondern auch Ratschläge gibt und den Menschen aufzeigt, wie sie besser mit den Symptomen umgehen, sodass man nicht überall aneckt.
ADHS ist genetisch vererbbar. Wie gehe ich damit um, wenn ich Elternteil von einem betroffenen Kind bin?
Mit Empathie und voller Unterstützung. Sätze wie «Ich schätze dich und dein Naturell und stehe voll und ganz zu dir» helfen dem Kind enorm, genau wie das Erarbeiten von Taktiken, um die Schule besser zu überstehen. Medikamente alleine regeln das Problem nicht.