Neue MethodenWie behinderte Menschen an Sex kommen
Liebe, Sex und Zärtlichkeit: Das bleibt im Alltag behinderter Menschen Tabu. Die deutschen Nachbarn gehen nun neue Wege. Dabei wird durchaus für Sex bezahlt.

Experten fordern mehr sexuelle Selbstbestimmung für behinderte Menschen.
Morgens nach dem Wecken schiebt Daniel die Pärchen in seiner Wohngruppe im Bett enger zusammen. «Damit sie sich küssen können», sagt der Heilerziehungspfleger aus dem Nahetal, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte. Was für die meisten Menschen selbstverständlich ist, wird für Behinderte durch geistige und körperliche Einschränkungen schnell zum Problem: Sich im Bett zärtlich an den Partner zu schmiegen, Liebe und Nähe einfach genießen zu können.
Daniel arbeitet auf der Station eines Heims, auf der schwer geistig und körperlich Behinderte leben. Längst nicht alle haben das Glück, innerhalb der Wohngruppe einen Partner zu finden. Viele fühlten sich einsam und sehnen sich nach Zuneigung und Zärtlichkeit, aber auch nach Erotik und Sex.
Die Aufklärung der Behinderten Kinder wird vernachlässigt
Rund 317 000 schwerbehinderte Menschen leben nach Angaben des Statistischen Landesamtes zuletzt in Rheinland-Pfalz. Viele von ihnen sind nicht in der Lage, selbstbestimmt ihre Bedürfnisse auszuleben. Die Beratungsorganisation pro familia fordert, offen über dieses Problem zu diskutieren und hat die Broschüre «Sexualität ist nicht behindert» veröffentlicht.
Thematisiert werden müsse, wie Betreuer, Pfleger und Eltern den sexuellen Wünschen ihrer behinderten Schützlinge begegnen sollen, erklärt Sexualpädagogin Stefanie Jentzsch von pro familia in Mainz. Die Bedürfnisse Behinderter würden oft mit dem «Bild vom ewigen Kind» assoziiert - Aufklärung und wichtige Gespräche in der Pubertät blieben aus, erklärt die Expertin.
Junge Pfleger oft überfordert
Den Wunsch nach Körperkontakt können behinderte Menschen häufig nicht gezielt äußern, erklärt Pfleger Daniel. «Beim Waschen kommt es schon einmal vor, dass Männer eine Erektion bekommen.» Er versucht dann, möglichst neutral damit umzugehen, um Patienten nicht in Verlegenheit zu bringen. «Wenn der Mitarbeiter überfordert ist, ist auch der Behinderte überfordert.»
Der Pfleger kennt aber auch Fälle, in denen vor allem junge Kolleginnen mit solchen Situationen nicht umgehen können. Sie fühlen sich belästigt und schimpfen Patienten aus. In manchen Berufsausbildungen komme der pädagogische Aspekt zu kurz, vermutet er. Dass Hemmungen menschlich seien, betont auch Jentzsch. Aber gerade eine Pflegekraft müsse sich dann unter Kontrolle haben.
Kein gesetzlicher Weg trotz UN-Konvention
Auch Behinderte haben ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, Partnerschaft und Familie. Die UN-Behindertenrechtskonvention legt fest, dass die Staaten ihnen die Teilhabe am normalen gesellschaftlichen Umgang ermöglichen müssen. Doch auch heute bestimmen indirekt häufig noch Eltern oder Betreuer, wie ihr Leben verläuft. Sexualpädagogin Jentzsch lernte in einem Seminar zwei behinderte Frauen kennen, denen zur Verhütung ohne deren Zustimmung eine Spirale eingesetzt wurde.
«Das Netzwerk aus Behinderten, Eltern und Personal muss zusammenarbeiten, damit Selbstbestimmung funktionieren kann», nennt Jentzsch einen Ansatz. Einen gesetzlich vorgeschriebenen Weg, wie mit sexuellen Wünschen behinderter Menschen umzugehen ist, gebe es trotz der UN-Konvention jedoch nicht. Einem Landesgesetz von 2009 zufolge müssen Behinderteneinrichtungen in Rheinland-Pfalz aber ein möglichst selbstbestimmtes Leben ihrer Bewohner gewährleisten.
Partnervermittlungen für Behinderte
Lösungen für das Ausleben von Sexualität müssten deshalb individuell gefunden werden, erklärt die Sexualpädagogin. Eine Möglichkeit ist nach ihren Angaben die sogenannte Sexualassistenz: Angeboten von Frauen, die sich auf die käufliche Liebe für Behinderte spezialisiert haben.
Auch in Daniels Gruppe wurde sie schon in Anspruch genommen. Sie würden über Eltern oder Pflegeeinrichtungen vermittelt, berichtet die Sexualpädagogin. Das seien aber noch Einzelfälle. Behinderten Frauen bleibe die Möglichkeit verwehrt, weil es im Land keine männlichen Sexualassistenten gebe. Inzwischen existierten auch schon Partnervermittlungen für Behinderte.
(L’essentiel Online / dpa)