Chemiewaffen in Idlib? – «Wir wissen schlicht nicht mehr, was stimmt»

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Chemiewaffen in Idlib?«Wir wissen schlicht nicht mehr, was stimmt»

Die Regierungsoffensive auf das syrische Rebellengebiet Idlib steht kurz bevor. Wieso scheitert eine politische Lösung – und wieso ist bereits die Rede von einem Chemiewaffenangriff?

Die syrische Regierung hat in Idlib in den vergangenen Wochen ihre Truppen zusammengezogen. Sie will mit Unterstützung ihrer Schutzmacht Russland das ganze Land wieder unter ihre Kontrolle bringen.

«Wir hoffen das Beste, bereiten uns aber auf das Schlimmste vor», sagte der humanitäre Koordinator der UNO mit Blick auf die anstehende Regierungsoffensive auf die syrische Provinz. Vor der befürchteten Offensive stellt sich die UNO auf eine neue Massenflucht ein. 900.000 Menschen könnten betroffen sein.

Wieso konnte keine politische Lösung für Idlib erreicht werden? Und was hat es mit den Anschuldigungen Russlands auf sich, wonach die Kämpfer in Idlib einen fingierten Chemiewaffenangriff der syrischen Armee vorbereiten? Fragen für den Sicherheits- und Nahostexperten Roland Popp.

Gibt es einen offiziellen Startschuss für die Idlib-Offensive?

Wir sind wohl nahe dran. Es sind bereits Bombardements in der Provinz im Gange, an denen sich Russland beteiligt. Das zeigt letztlich, dass es eine politische Lösung für den Gesamtraum Idlib nicht mehr geben wird.

Weshalb ist eine politische Lösung gescheitert?

Von der Türkei unterstützten Rebellen in Idlib weigern sich, ihren Kampf gegen das Assad-Regime aufzugeben. Damit ist die Türkei in der Zwickmühle: Im gesamten Syrienkrieg hat sie sich als Schutzmacht der sunnitischen Muslime ausgegeben. Für einen allfälligen Sturz des syrischen Machthabers Assad arbeitete sie so auch sehr eng mit Widerstandskräften zusammen, ungeachtet von deren Radikalität. Gibt sie diese jihadistischen Verbündeten in Idlib auf, verliert sie ihr Gesicht als deren Schutzmacht. Ihr droht auch, zur Geisel dieser so genannten Rebellen zu werden, die die 1500 dort stationierten türkischen Soldaten angreifen könnten, wenn die Türkei sie fallen lässt. Andererseits will die Türkei unbedingt verhindern, dass diese Kämpfer in die Türkei fliehen. Ideal für die Türkei wäre es gewesen, wenn Idlib weiterhin als autonome Provinz, also nicht unter Herrschaft des syrischen Regimes, hätte existieren können.

Was spricht gegen eine quasi autonome Verwaltung Idlibs?

Die Regierung in Damaskus kann nicht mit einem von Extremisten dominierten Landesteil leben, von dem immer wieder Terroranschläge ausgehen. Für Assad ist das inakzeptabel – er würde an Rückhalt in den Teilen der Bevölkerung verlieren, die ihn als den starken Mann sieht, der mit allen vermeintlichen und echten Terroristen aufgeräumt hat. Aber auch für die Russen und auch für die Chinesen wäre es inakzeptabel, Tausende Kämpfer in Idlib zu verschonen. Sie fürchten vor allem die Rückkehr der vielen tschetschenischen und uigurischen Extremisten.

Russland erhebt den Vorwurf, Rebellen in Idlib inszenierten einen Chemiewaffenangriff, um ihn dem syrischen Regime in die Schuhe zu schieben. Was ist davon zu halten?

Entweder haben die Russen tatsächlich handfeste Hinweise auf eine Inszenierung für einen Chemiewaffenangriff, der eine westliche Militärintervention provozieren soll, oder es ist eine taktische Vorbereitung, weil sie wissen, dass ihr Verbündeter, Syrien, wahrscheinlich zu Chemiewaffen greifen wird. Bemerkenswerterweise hat der UNO-Sonderbeauftragte für Syrien, Staffan de Mistura, öffentlich gesagt, dass sowohl die syrische Regierung wie auch die ehemalige Nusra-Front über Chemiewaffen verfügen. Es ist erstaunlich, dass ein hoher UN-Vertreter hier andeutet, dass ein möglicher Einsatz solcher Waffen nicht nur vonseiten der Regierung möglich ist.

Heißt das, es wird so oder so einen Chemiewaffenangriff in Idlib geben?

Hoffentlich nicht! Sicher ist nur das eine: Wir haben hier einen riesigen Propagandakrieg aller Parteien, der die Dimensionen aus dem Kalten Krieg angenommen hat. Wir wissen schlicht nicht mehr, was stimmt. Alles, was wir tun können, sei es aus wissenschaftlicher oder journalistischer Sicht, ist, möglichst viel Skepsis walten zu lassen. Es gibt keine Gewissheiten.

(L'essentiel)

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