TokioWo 4,8 Quadratmeter Platz reichen müssen
Im Capsule Tower in Tokio sollten gestresste Geschäftsleute Ruhe und Entspannung finden: In den kleinsten Zimmern der Stadt.

Der Nagakin Capsule Tower ist eines der wichtigsten Gebäude der japanischen Nachkriegs-Architektur. Einst wurde es als «die Zukunft des Wohnens» bezeichnet. Ein seltenes Beispiel für die japanische Kapselarchitektur, das tatsächlich zur dauerhaften Nutzung entworfen wurde, und nicht nur als Kunstprojekt.
Mitten in Tokio liegt der Kapselturm, der im Laufe der Jahre immer mehr verfallen ist. Die verkommene Fassade täuscht aber: 2012 wurden immer noch 30 der 140 Kapseln als Wohnungen genutzt. Den Rest nutzten reichere Japaner als Lagerraum oder wurde verrottet zurückgelassen.
Austauschbar wie Schubladen
Der französische Fotograf Jordy Meow hat bei seinen Entdeckungstouren durch den Nagakin Capsule Tower aber nicht nur verlassene Räume gefunden. Einige der Kapseln waren schon so lange vernachlässigt und unbewohnt, dass kleine Wälder darin gewachsen sind.
Architekt Kisho Kurokawa baute den Tower, der eigentlich aus zwei einzelnen Türmen besteht, 1972. Die Türme sind so konstruiert, dass sie ineinander übergehen. Die Kapselelemente sind so designt, das sie einzeln entfernt und ersetzt werden könnten. Das ist aber ein theoretischer Wert: Keine einzige Kapsel wurde jemals ersetzt.
Das liegt vor allem am Material und der schlechten Umsetzung beim Bau: Es hat sich herausgestellt, dass das Entfernen der Kapseln in der Realität wesentlich komplizierter wird als von Kurokawa gedacht. Aber auch der Unterhalt der ursprünglichen Kapseln ist teuer und aufwändig.
Leben auf 4,83 Quadratmetern
Die Kapseln sind winzig: Sie messen 2,3 auf 2,1 Meter, also nicht mal ganz fünf Quadratmeter. Ursprünglich waren sie für die sogenannten «Salarymen», japanische Geschäftsmänner, gebaut und vermarktet worden. Diese sind in der Regel single, arbeiten täglich zehn Stunden oder mehr und wohnen häufig weit außerhalb Tokios.
Um sich während der Woche zu erholen, zu duschen oder einfach um sich zurückzuziehen, quartierten sie sich in den Kapseln ein. Ausgestattet mit einer kleinen Küche, einem Fernseher, einem Bett und einem Badezimmer boten diese alles, was der gestresste Angestellte brauchte, um sich zu entspannen.
Mit der Ölkrise begann der Abstieg
Kurz nach der Fertigstellung des Turmes wurde Japan 1973 von der Ölkrise getroffen, eine erste Welle von Bewohnern zog aus. In den 90er-Jahren platzte eine Finanz- und Immobilienblase in Japan, weitere Mieter zogen weg. In den 2000ern häuften sich Beschwerden über den Zustand der Türme.
Kein Wunder: Die meisten Baumaterialien waren nicht dafür gedacht, so lange genutzt zu werden. Unter den Bewohnern machte sich die Angst vor Asbest breit, Beschwerden über große Temperaturunterschiede zwischen den einzelnen Kapseln waren auf ein kaputtes Ventilationssystem zurückzuführen.
Noch immer leben Menschen im Turm
Als 2007 Architekt Kurokawa verstarb, stimmten über 80 Prozent der Bewohner einem Antrag zu, den Turm abzureißen und durch einen neuen zu ersetzen. Dieses Projekt scheiterte 2010 definitiv, nachdem kein Bauunternehmer gefunden werden konnte.
Und heute? Der Zustand des Nagakin Capsule Towers ist desolat. 2010 wurde die Heißwasserversorgung abgestellt, kürzlich wurde ein Netz über die Türme gespannt, um zu verhindern, dass herabfallende Trümmerteile Passanten treffen. Und doch: Noch immer wohnen rund 40 Menschen in den Kapseln.
(L'essentiel/mst)